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Was verflucht nochmal passiert beim Schimpfen im Gehirn?

FLUCHEN UND SCHIMPFEN AUS NEUROWISSENSCHAFTLICHER SICHT

Für das Thema „Fluchen und Schimpfen“ ist die einfache Unterscheidung höherer und tieferer Hirn-Funktionen wichtig. Die Verarbeitung von Sprache gehört zu den Höheren. Die rationale Verarbeitung von Sprache findet bei den meisten in der linken Hemisphäre statt, deren emotionale Einbindung in der rechten. Wie das genau funktioniert, erklärt Prof. Dr. Aglaja Stirn hier in unserem Interview.

Für das Thema „Fluchen und Schimpfen“ ist die einfache Unterscheidung höherer und tieferer Hirn-Funktionen wichtig. Die Verarbeitung von Sprache gehört zu den höheren. Die rationale Verarbeitung von Sprache findet bei den meisten in der linken Hemisphäre statt, deren emotionale Einbindung in der rechten.

Prof. Dr. Aglaja Stirn

Prof. Dr. Aglaja Stirn wurde in Wiesbaden geboren. Sie studierte und arbeitete an verschiedenen Standorten in Deutschland und im Ausland, z. B. in New York, Indien oder Nepal. Im Jahr 1996 promovierte sie zur „Veränderung des Selbst- und Objekterlebens unter stationärer Psychotherapie“. Ihre Habilitation folgte im Jahr 2006 zum Thema „Psychosoziale und psychodynamische Hintergründe von Körpermodifikationen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist seit Januar 2011 Chefärztin der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Asklepios Westklinikum Hamburg. Seit Oktober 2012 hat sie zudem die Stiftungsprofessur für Psychosomatische Akutmedizin an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel inne.

In ihrer Forschung widmet sie sich dem pathologischen Umgang mit dem eigenen Körper und erforscht unter anderem selbstmanipulative Handlungen wie Essstörungen und Selbstverletzungen sowie den Bereich Sexualmedizin.

Prof. Dr. Aglaja Stirn erklärt was das Fluchen mit unserem Körper macht und welche Rolle dabei unser Gehirn spielt.

Welche Bedeutung und Funktionen hat das Fluchen in unserem Alltag?

Wir wissen, dass Menschen seit Beginn der Sprache Fluchen. Fluchen ist eine sprachliche Aktivität, die ein Ausdruck von starker Emotion ist. Meist wird mit Tabuwörtern oder Schimpfwörtern geflucht, die sich um Körperausscheidungen, Körperfunktionen oder auch Sex drehen. Im englischen Sprachraum wird vor allem das Wort „Fuck“ benutzt.
Fluchen ist weit verbreitet. Mindestens 60 % der Bevölkerung fluchen regelmäßig und vielleicht 10 % der Bevölkerung fluchen gar nicht. Dabei gibt es aber kulturelle Unterschiede, denn es gibt Kulturen, in denen es verpönt ist, emotional starke Ausdrucke in der Öffentlichkeit zu nutzen. Demgegenüber gibt es Kulturen, die wiederum mehr fluchen.
Wir alle haben in der Regel eine Hemmung zu fluchen, wenn es nicht ganz automatisch geschieht. Diese Hemmung wird auch als Fluch-Etikette bezeichnet. Im Verlauf des Lebens sammeln wir die Erfahrung, dass Fluchen in der Umgebung bei anderen Personen auch negative Gefühle auslösen kann. Menschen, die sehr viel fluchen, haben dann vielleicht das Pech, dass sie in der sozialen Umgebung Nachteile erleiden können.

Fluchen in der Öffentlichkeit kann anderen kommunizieren „Ich bin in einem sehr hohen emotionalen Zustand“. So können Mitmenschen abgeschreckt oder auch verletzt werden, wenn zu viel geflucht wird. Wie wir wissen, sind Fluchworte keine neutralen Worte, sondern Schimpfworte. Allerdings können diese Worte nicht nur beleidigen oder verletzen, sondern auch zur Gruppenbildung beitragen. Es ist bekannt, dass auf Fußballplätzen gemeinsam in Gruppen oder einzelnen Gruppierungen geflucht und geschimpft wird. Auch Jugendliche fluchen miteinander und untereinander. Hier kommunizieren das Fluchen und Schimpfen etwas anderes, da es zeigt: „Wir haben Vertrauen zueinander. Wir sind hier privat zusammen“. Da kann Fluchen eben auch eine gruppenbildende Funktion haben.

Weiterhin hat Fluchen mit der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen zu tun. Personen, die extrovertierter oder impulsiver sind, neigen mehr dazu zu fluchen als Menschen, die introvertierter und nicht so dominant oder nicht so impulsiv sind. Menschen, die religiös gebunden sind, fluchen auch weniger. Fluchen steht in enger Beziehung zu Verfluchen und Verwünschen, damit sind wir wieder im Kontext der Ausstellung. Früher dachte man zudem, dass vor allem Männer fluchen. Heute ist man davon gar nicht mehr so überzeugt. Es gibt auch Frauen, die sehr emotional und impulsiv fluchen können. Also da ist die Forschung noch nicht am Ende.

Man weiß auch, dass der gezielte Einsatz von Flüchen bestimmte Argumente verstärken kann. Es macht einen glaubwürdiger und erhöht die Authentizität. Es gibt Menschen, die in einem Gespräch dann zwischendurch ein bisschen fluchen und dadurch ihren Argumenten ein Stück mehr Gewicht verleihen. Da ist das Fluchen auch bewusst eingesetzt.

Was passiert beim Fluchen im Gehirn und wie wirkt sich das auf den Körper aus?

Man weiß, dass Fluchen automatisch und im Affekt geschehen kann. Damit wäre es eher in der rechten Hirnhälfte zu verorten. Geflucht wird aus der rechten Hirnhälfte heraus in Verbindung mit dem Limbischen System und den Basalganglien, das sind die emotionalen Anteile im Gehirn. Aber es kann auch ein Stückweit kontrolliert geschehen. Geschieht das Fluchen bewusst, wie beispielsweise bei der Verstärkung von Argumenten, dann wäre es mehr mit der linken Hirnhälfte verbunden. Werden Fluchworte und Kraftausdrücke bewusst eingesetzt, spielt der Präfrontalkortex eine Rolle. Das ist der Teil des Gehirns, der uns kontrolliert und unsere Emotionen steuert.

Fluchen hat vor allem eine intrapsychische Funktion, das wäre das sogenannte Ärgerfluchen. Das drückt aus, dass man sehr starke Emotionen hat. Damit ist auch ein Stressabbau verbunden und eine Schmerzbewältigung. Es hat aber auch eine interpsychische Funktion oder eine kommunikative Funktion, weil es dem Gegenüber natürlich auch etwas aussagt. Hier ist auch ein Unterschied zu erkennen, ob ich nur für mich allein oder in Gesellschaft fluche. Evolutionsbiologisch gesehen kann man sagen, dass das Fluchen aus Ärger und Frustration vergleichbar ist mit dem Knurren bei Tieren. Den anderen Tieren oder Menschen wird ein emotionaler Zustand kommuniziert, damit sie wissen: „Hier ist jemand hochemotional. Die Person sollte ich lieber in Ruhe lassen.“ Der Stresspegel wird so nach Außen kommuniziert und dadurch werden die anderen auch gewarnt: „Halte dich zurück und mache nichts.“

“Ich bin in einem hohen emotionalen Zustand, lasst mich in Ruhe.”

Für einen selbst ist das wieder ein kathartischer Effekt, dass man seinen Ärger ausgedrückt hat, ohne handgreiflich zu werden. Im Grunde genommen schützt es uns. Fluchen schützt einen selbst davor, dass man nicht handgreiflich wird, weil man sich mit Worten ausdrückt. Andererseits schützt es die Umgebung, weil man nach außen kommuniziert „Ich bin in einem hohen emotionalen Zustand und brauche meine Ruhe“.

Die intrapsychische Funktion des Fluchens ist besonders interessant, deshalb hat man verschiedene Studien durchgeführt. In diesen Untersuchungen mussten Menschen Schmerzen oder extreme Reize aushalten, wie beispielsweise ihre Hand in eiskaltes Wasser halten. Bei Personen, die dabei geflucht haben, stieg die Schmerztoleranz nach oben und sie konnten diesen Schmerz besser aushalten. Die Erkenntnisse sind in dem Zusammenhang spannend, weil sie zeigen, wie sehr das Fluchen den Körper beeinflussen kann. Durch den Einsatz von Fluchwörtern oder Flüchen wird der Körper so abgelenkt, dass er bestimmte Emotionen wie Schmerzen stärker und besser aushalten kann. Dies ist nicht mit neutralen Worten gelungen, sondern nur mit Fluch- und Schimpfworten. Insofern hat Fluchen eine Ablenkungsfunktion. Es verstärkt sich aber selbst, da man weiß, dass ein Leistungsniveau durch Fluchen erhöht werden kann. Wenn Menschen fluchen und sich dabei anstrengen oder eine bestimmte Leistung vollbringen, konnten sie durch Fluchen manchmal bessere Leistungen erbringen, als wenn sie nicht fluchen. Das kennt man auch von Sportlerinnen und Sportlern.

Warum können manche Menschen den Drang zu fluchen nicht mehr unterdrücken (Tourette-Syndrom; bei Demenz-Erkrankungen)?

Bei bestimmten Erkrankungen, wie Demenz oder Alzheimer, können Personen anfangen zu fluchen, obwohl sie dies nicht mehr oder noch nie in ihrem Leben gemacht haben. Verantwortlich hierfür ist der Präfrontale Kortex, also die Kontrollinstanz im Gehirn, die bei diesen Erkrankungen nicht mehr wie ursprünglich funktioniert. Die Strukturen im Gehirn sind dann nicht mehr vorhanden, wie sie im früheren Leben waren. Es gibt auch funktionelle Erkrankungen wie das Tourette-Syndrom. Das ist verbunden mit Ticks und unkontrolliertem Fluchen oder teils kontrolliertem Fluchen vor allem in Stresssituationen.

Wie fluchen Sie?

Wenn ich fluche, benutze ich Worte wie Mist oder Idiot. Man weiß grundsätzlich, dass die Deutschen und Österreicher mehr Worte aus dem Fäkalbereich nutzen, dass die Amerikaner mehr aus dem sexuellen Bereich nutzen. Man weiß, dass es kulturelle Unterschiede gibt. Ich persönlich fluche mehr mit Worten, die nicht ganz so schlimm sind. Meine Fluch-Etikette ist sehr hoch.